Dr. Norbert Podewin
Der 13. August 1961: die "Zweitgeburt" der DDR
Walter
Ulbricht hat intern und im kleinen Kreis von Vertrauten den Mauerbau in
Berlin als "Zweitgeburt der DDR" bezeichnet. Nun konnte - erstmals
weitgehend abgeschirmt vom NATO-Europa - der Aufbau der sozialistischen
Gesellschaftsordnung planmäßig umgesetzt werden. Die oftmals tiefen
Einschnitte im deutsch-deutschen Familienleben hat er durchaus gesehen.
Das persönliche Negativ-Image gestand er in einem Gespräch mit dem
anglikanischen Priester Paul Oestreicher ein, den er Anfang 1962 zu
einem Gespräch über humanitäre Fragen empfing. "Ulbricht überraschte
uns mit seiner leutseligen Art, äußerst intelligent und schlagfertig,
überaus freundlich zu Beginn. Er wusste, wie man Leute beeindrucken
kann - mit großer Offenheit ... Er stehe in Frontlinie der Verteidigung
des Sozialismus, dazu gehöre die Tragik der Mauer, nötig, damit die DDR
nicht menschlich ausblutet ... 'Die Menschen, mein Volk, sind noch
bürgerlich verseucht, verstehen noch nicht, was der Sozialismus
bedeutet. Sie können mich nicht lieben, diesen Preis muss ich
bezahlen.' Angesprochen auf die damalige Liberalisierung
Chruschtschows, ob das nicht auch in der DDR zur Liberalisierung führen
müsse, erwiderte er: 'Der dahinten kann sich allerhand leisten, aber
ein Soldat im Schützengraben zündet sich keine Zigarette an.' Frage an
ihn: Aber muss man an der Mauer Menschen totschießen? Antwort dem Sinn
nach: 'Das ist der bittere Preis, den ich bezahlen muss. Würde nie
geschossen, hätten wir die Mauer gar nicht bauen müssen. Ich weiß nur
zu wohl, welche Propagandawaffe ich damit dem Klassenfeind liefere. Ich
habe keine Wahl. Eines Tages - nach meinem Tod - wird mir die
Geschichte Recht geben.'"(1)
Unmittelbar nach der Zäsur des
13. August 1961 setzte Walter Ulbricht eine Vielzahl von
deutschlandpolitischen Aktivitäten in Gang, die auf die vertragliche
Normalisierung zur BRD zielten. Ein erstes Signal war das Angebot an
den Senat von Berlin (West), das zum Passierscheinabkommen vom 17.
Dezember 1963 führte. Es ermöglichte den Westberlinern zu
Weihnachten/Silvester den Verwandtenbesuch in der DDR-Hauptstadt.
Später folgten Erweiterungen (Ostern/Pfingsten); ab 10. Oktober 1966
existierte auch eine DDR-"Passierscheinstelle für dringende
Familienangelegenheiten" im Westteil Berlins. Am 6. Januar 1964 sandte
der Staatsratsvorsitzende dem neuen Bundeskanzler Ludwig Erhard den
Entwurf eines Vertrages über den beiderseitigen Verzicht der deutschen
Staaten auf Kernwaffen - der Brief wurde ungeöffnet zurück geschickt.
Am
24. April 1964 gab es - im Verlauf der 2. Bitterfelder Konferenz - eine
neue Ulbricht-Offerte an Bonn: Zeitungsaustausch. Ulbricht: "Obwohl die
westdeutsche Presse ständig empörende Beweise dafür liefert, dass sie
die westdeutsche Bevölkerung nicht informiert, sondern desorientiert
und in die Irre führt, wären wir bereit, einige westdeutsche Zeitungen
wie etwa 'Die Zeit' oder die 'Süddeutsche Zeitung' bei uns zum Verkauf
auszulegen, wenn die Garantie dafür gegeben wäre, dass in
Westdeutschland das 'Neue Deutschland' in gleichem Maße öffentlich
verkauft wird."(2) Auch diese Offerte scheiterte an formaljuristischen
Vorbehalten der BRD-Instanzen.
Ein dritter Vorschlag -
Redneraustausch zwischen den Repräsentanten von SED und SPD - kam nicht
zustande. Die BRD-Medien attackierten von Anbeginn den in einem
"Offenen Brief" vom Februar 1965 an die Delegierten des Dortmunder
SPD-Parteitages unterbreiteten Vorschlag. Anfangsverhandlungen beider
Seiten schienen erfolgreich - die SED hatte bereits Friedrich Ebert
sowie Albert Norden als Redner nominiert. Die Veranstaltungsorte und
Termine waren bereits fixiert: 14. Juli - Karl-Marx-Stadt; 21. Juli -
Hannover. Intern regte sich im Politbüro eine Gruppe um Erich Honecker,
initiiert von der neuen Führung der KPdSU: Wie konnte gesichert werden,
dass es bei deutsch-deutschen Themen blieb und nicht Probleme der
"Bruderländer" seitens der SPD aufgeworfen würden? Die BRD kam dieser
SED-Fraktion ungewollt entgegen. Sie verabschiedete am 23. Juni 1965
auf SPD-Antrag das "Gesetz über die befristete Freistellung von der
deutschen Gerichtsbarkeit", das generell alle DDR-Repräsentanten zu
potentiellen Straftätern erklärte, die man jedoch in bestimmten
Ausnahmefällen - so etwa beim Redneraustausch - für einen befristeten
Zeitraum von der Strafverfolgung freistellen konnte. Albert Norden
nannte dieses Konstrukt prägnant "Handschellengesetz". Unter dieser
unannehmbaren Voraussetzung zog die SED am 29. Juni 1965 ihren
Vorschlag zurück. Die Medien der BRD fälschten den Vorgang um, die SED
habe Angst vor dem öffentlichen Auftreten sozialdemokratischer
Politiker in der BRD. "BILD" brachte es auf den Punkt: "Ulbricht
kneift!"
Der Absturz Chruschtschows und seine Folgen für die Deutschlandpolitik Walter Ulbrichts
Am
14. Oktober 1964 vollzog sich in Moskau ein Machtwechsel mit weltweiten
Folgen: Nikita S. Chruschtschow wurde als Erster Sekretär des ZK der
KPdSU durch Leonid I. Breshnew abgelöst. Der Gestürzte verlor auch
seinen Sitz im Politbüro und 1966 auch noch die Mitgliedschaft im ZK.
Der Nachfolger war im Sinne einer kritischen Analyse W. I. Lenins
ein "Großrusse". Er entwickelte die nach ihm benannte Doktrin, wonach
die Interessen der kommunistischen Gemeinschaft Vorrang vor den
spezifischen Belangen eines einzelnen Staates der sozialistischen
Gemeinschaft hätten. Sichtbarer Ausdruck dieser "Breshnew-Doktrin" war
der Einmarsch von Truppen des Warschauer Vertrages am 21. August 1968
in die CSSR zur Unterbindung des "Prager Frühlings". Die DDR-Volksarmee
war auf ausdrückliche Forderung Walter Ulbrichts an der Intervention
nicht beteiligt.
In der Ära Chruschtschow (1953 bis 1964)
genoss die DDR außenpolitisch den größten Freiraum in ihrem
vierzigjährigen Bestehen. Das beruhte auch auf der persönlichen
Wertschätzung Chruschtschows gegenüber Walter Ulbricht - beide hatten
wesentliche Fundamente dieser zwischenmenschlichen Beziehungen
insbesondere in den Schützengräben vor Stalingrad gelegt. Breshnew
hatte schon vor seinem Machtantritt die Deutschland-Aktivitäten Walter
Ulbrichts misstrauisch beargwöhnt. Seit Oktober 1964 unterstützte er
die Installation einer Fraktion gegen Ulbricht in der SED-Führung.
Erich Honecker war insbesondere über innenpolitisch neue
Weichenstellungen Walter Ulbrichts nach dem 13. August 1961 empört. Der
hatte eine neue Jugendpolitik in Gang gesetzt, die erstmalig auch
DDR-Rock- und Singegruppen Massenzufluss sicherten. Erstmals tauchten
in den Kinos DEFA-Filme mit sozialkritischen Aspekten beim Aufbau des
Sozialismus auf und zwischenmenschliche Beziehungen wurden
thematisiert. Bücher wie Erwin Strittmatters "Ole Bienkopp" (1963) oder
"Spur der Steine" von Erik Neutsch (1964) wurden zu literarischen
"Dauerbrennern".
Ein "Deutschlandtreffen" hatte vom 16. bis
18. Mai 1964 junge Menschen aus beiden deutschen Staaten und
Berlin/West zusammengeführt und zu zahllosen politischen Gesprächen und
teils fortdauernden Kontakten geführt. Der aus diesem Anlass ins Leben
tretende Rundfunksender "DT 64" wurde von der DDR-Jugend sofort mit
Begeisterung angenommen und erhielt deshalb - über die
Deutschlandtreffentage hinweg - dauerhaften Bestand.
Gegen diese
als "Aufweichungserscheinungen" bewerteten Trends nahm die Gruppe um
Erich Honecker erstmals auf dem 11. Plenum vom 15. bis 18. Dezember
1965 offen den Kampf gegen Walter Ulbricht auf. Die Tagesordnung sah -
wie alljährlich zu diesem Zeitpunkt üblich - die Bestätigung der
Zielvorstellungen des neuen Planjahres vor. Kulturpolitische
Grundfragen waren nicht vorgesehen. Interessant ist auch der Fakt, dass
in einer in Honeckers Amtszeit veröffentlichten DDR-Zeittafel dieser
"Einschub" wieder ausgeblendet wurde. Dort heißt es 1984 lediglich mit
Terminangabe zum Inhalt: "Die 11. Tagung des ZK der SED behandelt
u. a. Probleme des Perspektivplanes bis 1970 und den Entwurf des
Volkswirtschaftsplanes 1966."(3)
Berichterstatter war auf
diesem Plenum Erich Honecker. Er täuschte Ulbricht, indem er einen
ausschließlich auf volkswirtschaftliche Schwerpunkte orientierten
Entwurf in Umlauf gab und bestätigen ließ. Anschließend fügte er vorher
nicht vorhandene Teile zur Kulturpolitik ein, die dann auch Ulbricht
überraschten und schockierten. Honecker machte in den Zusätzen
"schädliche Tendenzen" sowie "Skeptizismus und Unmoral" im
Kulturbereich aus und setzte dagegen: die DDR sei "ein sauberer Staat",
in dem "unverrückbare Maßstäbe der Ethik und Moral" gälten. Namentlich
denunziert wurden Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler, unter
anderen Robert Havemann, Stefan Heym und Wolf Biermann. Dann schlug der
Berichterstatter - ohne Namensnennung - auf die von Walter Ulbricht im
Rahmen des "Neuen Ökonomischen Systems" protegierten
Wirtschaftsreformer ein: "Bei einigen Wissenschaftlern, Technikern und
auch staatlichen Leitern ist die Neigung noch nicht überwunden, sich in
allen Fragen der neuen Technik einseitig am 'Westniveau' zu
orientieren, ohne den Versuch gemacht zu haben, sich über den Stand in
der Sowjetunion zu informieren ... Die Leiter und alle verantwortlichen
Mitarbeiter in den Staats- und Wirtschaftsorganen müssen in ihrer
praktischen Tätigkeit stets davon ausgehen, dass die enge
Zusammenarbeit mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken für
eine gesicherte Perspektive entscheidend ist."(4) In der anschließenden
Diskussion gewann die Fraktion personelle Konturen. Leipzigs Parteichef
Paul Fröhlich, der Kulturpolitiker Alfred Kurella, die Verantwortliche
der Parteihochschule der SED Hanna Wolf und andere fielen in Honeckers
Schelte ein.
Walter Ulbricht stand vor einer
Entscheidungssituation besonderer Art. Stellte er sich frontal gegen
die Vorwürfe, so musste er seine Kritiker als Fraktion kennzeichnen und
ihre Abstrafung durch das Plenum verlangen. Doch galt auch für ihn die
Wahrung des Äußeren - die "Einheit der Partei und ihrer Führung" und
deren daraus abgeleitete "führende Rolle" - als öffentlich unantastbar.
Sein Kompromiss: er stimmte in seinem Diskussionsbeitrag - das Plenum
dauerte einen Tag länger als ursprünglich vorgesehen - mit den
Kritikern darin überein, dass es "Schwankende" gäbe und "Unklarheiten"
beständen; doch man befinde sich auf gesichertem Boden und könne
deshalb in diesen Fällen mit Langmut und Nachsicht überzeugen. Doch
hatte die Fraktion - wie die nahe Zukunft zeigen sollte - einen Sieg
eingefahren: abgedrehte Filme blieben unaufgeführt, Manuskripte wurden
nicht mehr zu Büchern, Fernsehspiele wurden abgesetzt. Der Vorsitzende
der Jugendkommission beim Politbüro - Kurt Turba - geriet zum
Bauernopfer; er wurde seines Postens enthoben und in die
Nachrichtenagentur ADN versetzt.
Reformkur für den Apparat
Es
gab noch einen weiteren schwergewichtigen Aspekt für den Vorstoß der
Honecker-Fraktion: die Funktionärskaste fühlte sich seit der
neuen Phase der Innenpolitik nach dem 13. August in ihrer
Unersetzlichkeit bedroht. Bereits Ende 1961 hatte Walter Ulbricht in
einer sehr deutlichen Sprache die parteiamtliche "Überwucherung"
angeprangert. Vor der Berliner Parteiorganisation nannte er Zahlen:
"Man hat mir gesagt, der Stadtbezirk Mitte habe 1465 hauptamtliche
Kräfte. Das heißt: auf 62 Einwohner käme eine hauptamtliche Kraft.
Stellt Euch das einmal vor! Wenn diese alle aktiv an der Massenarbeit
teilnähmen, wäre es gar nicht auszudenken, wie schnell wir dann
vorwärts kämen! Manche Funktionäre würden bei dieser Massenarbeit
wieder eine engere Verbindung mit dem Leben bekommen, und das würde
ihnen gut tun."(5)
Erstmals öffentlich gemacht wurde auch das
Bildungsniveau hauptamtlicher Kader. In 106 SED-Kreisleitungen gäbe es
keinen einzigen Mitarbeiter mit einer Hochschulausbildung. Städtenamen
wurden exemplarisch aufgeführt: von den 18 Kreisen des Bezirks Erfurt
und den 31 Kreisen Karl-Marx-Stadts hätten 16 Kreisleitungen in ihren
Apparaten keinen Genossen mit fachlicher Hochschulbildung. Ulbricht
wörtlich: "In den Kreisleitungen Erfurt-Nord, Apolda und Wolgast gibt
es überhaupt keinen Genossen mit einer Hoch- oder Fachschulausbildung"
- ein unhaltbarer Zustand.
Radikales Umdenken nach der
DDR-"Zweitgeburt" sagte der Partei- und Staatschef auch in einem
Bereich an, an dem zuvor jede kritische Bemerkung für den Betreffenden
lebensbedrohlich werden konnte: dem Strafrecht. Walter Ulbricht
forderte Umdenken. Vor den 4000 Teilnehmern des Nationalkongresses der
Nationalen Front Deutschlands - er tagte am 16./17. Juni 1962 in Berlin
- betonte er: Nach der zuverlässigen Grenzsicherung festige sich die
innere Lage des Staates - das ökonomische wie das politisch-moralische
Fundament seien stabil und gewännen täglich mehr an Festigkeit. Damit
seien aber auch die Möglichkeiten, "Menschen, die unsere Gesetze
verletzten, zu erziehen, anstatt zu strafen, heute bei weitem größer
als - sagen wir einmal - vor zehn Jahren. Offensichtlich haben das
einige Rechtswissenschaftler nicht verstanden ... Damit können wir uns
nicht einverstanden erklären." "Feindlichen Anschlägen" und anderen
schweren Verbrechen werde man auch künftig mit aller Härte begegnen.
Jedoch sei nicht jede dumme Bemerkung, nicht jedes dumme Gerede, wenn
jemand - wie man landläufig sage "der Kragen platzt" - eine
Staatsverleumdung. Viel stärker als in der Vergangenheit sei die
ehrenamtliche Rechtsprechung - beispielsweise durch die Tätigkeit von
Konfliktkommissionen - gefordert. Ganz Staatsmann und Landesvater
formulierte er explizit: "Wir sind keine Fetischisten der Strafe. Wir
vertrauen auf die wachsende Kraft der sozialistischen Gesellschaft,
durch die die Reste des egoistischen, menschenfeindlichen Denkens und
Handelns aus der kapitalistischen Zeit überwunden werden und der
Kriminalität immer mehr der Boden entzogen wird. Freiheit und
Gerechtigkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit, einer für alle und alle
für einen - das sind die unveräußerlichen Grundlagen der entfalteten
sozialistischen Gesellschaft, der wir gemeinsam zustreben."(6)
Fallstrick Deutschlandpolitik
Mit
großem Misstrauen hatte der neue "Erste" im Kreml - Leonid Breshnew -
den wirtschaftlichen Reformkurs in Form des Neuen Ökonomischen Systems
der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NÖSPL) in der DDR
verfolgt. Die Reaktion war ebenso einfach wie brutal: der
lebensnotwendige Rohstoffnerv der DDR-Wirtschaft in Gestalt
sowjetischer Erdöllieferungen wurde faktisch zerstört, indem man die
Liefermenge auf ein Minimum reduzierte. Wirtschaftsverhandlungen
DDR/UdSSR im Herbst 1965 erbrachten kein Einlenken. Im Ergebnis dieses
Scheiterns zog der DDR-Verhandlungsleiter Erich Apel eine persönlich
dramatische Konsequenz: Er beging am 3. Dezember 1965 in seinem
Dienstzimmer im Haus der Ministerien Selbstmord. Am 15. Dezember 1965
schließlich begann die bereits geschilderte 11. ZK-Tagung mit dem
Angriff der sich entwickelnden Honecker-Fraktion auf Walter Ulbrichts
Generalreformen. Es ist gewiss keine Unterstellung, dass er dazu die -
noch stillschweigende - Unterstützung Leonid Breshnews besaß, der vom
27. bis 30. November 1965 die DDR besucht hatte.
Doch noch hielt
Walter Ulbricht an seinem besonderen deutschen Weg zum Sozialismus
fest. Er distanzierte sich faktisch nochmals öffentlich vom
sowjetischen Modell. In einer Aufsehen erregenden Rede zur Würdigung
des Hauptwerkes von Karl Marx - "Das Kapital" - erklärte er definitiv,
"dass der Sozialismus nicht eine kurzfristige Übergangsphase in der
Gesellschaft ist, sondern eine relativ selbständige sozialökonomische
Formation in der historischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum
Kommunismus im Weltmaßstab". Die internationalen Zuhörer werteten das
durchaus richtig als Absage an das sowjetische Vorbild: Nach der
dortigen Lehrmeinung hatte der Aufbau des Sozialismus in der UdSSR 1936
begonnen - 1961 hatte Chruschtschow den Eintritt in die Phase des
Kommunismus propagiert.
In der Deutschlandpolitik zeichneten
sich Ende der sechziger Jahre bedeutsame Veränderungen ab. Nach dem
Ende der Ära Adenauer übernahm der "Vater des Wirtschaftswunders",
Ludwig Erhard, am 16. Oktober 1963 das Kanzleramt. Seine Amtszeit war
kurz und glücklos: Er trat bereits am 30. November 1966 zurück. Ihm
folgte das Kabinett der Großen Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg
Kiesinger (CDU) und Vizekanzler Willy Brandt (SPD). Es war ein Bündnis
auf Zeit: Bei der Bundestagswahl vom 28. September 1969 errangen SPD
(224) und FDP (30) insgesamt mit 254 Mandaten die parlamentarische
Mehrheit. Kanzler wurde Willy Brandt, Stellvertreter der
FDP-Vorsitzende Walter Scheel.
Im Vorfeld hatte es 1969 bereits
den vorzeitigen Rücktritt des von der DDR dokumentarisch als
KZ-Baumeister überführten Bundespräsidenten Heinrich Lübke (CDU)
gegeben; sein Nachfolger wurde am 5. März 1969 Gustav Heinemann (SPD).
Nochmals wurde Walter Ulbricht im Alleingang aktiv: Er setzte am 17.
Dezember 1969 einen Volkskammerbeschluss durch, "... die erforderlichen
Maßnahmen zu ergreifen, um mit der Bundesrepublik Deutschland
Beziehungen auf der Grundlage der friedlichen Koexistenz zu
unterhalten, die durch völkerrechtlich gültige Vereinbarungen geregelt
und gesichert sind". So legitimiert richtete der
DDR-Staatsratsvorsitzende am Folgetag ein Schreiben an den
BRD-Bundespräsidenten, dem ein Vertragsentwurf über die Aufnahme
gleichberechtigter Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten
beigefügt war. Erstmals gab es eine korrekte Antwort aus Bonn: Der
Bundespräsident teilte seinem deutschen Pendant mit, das Schreiben sei
zuständigkeitshalber an die Bundesregierung weitergeleitet worden. Im
Ergebnis kam es dann zu den international als Durchbruch in den
deutsch-deutschen Beziehungen gewerteten Treffen von Erfurt (19. März)
und Kassel (21. Mai 1970) zwischen DDR-Ministerpräsident Willi Stoph
und Bundeskanzler Willy Brandt. Es gab keine verbindlichen
Vereinbarungen; Brandt legte in Kassel einen 20-Punkte-Plan vor, der
die schrittweise vertragliche Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten
vorsah. Man vereinbarte abschließend eine "Denkpause" ohne
Terminverbindlichkeit. Die internationale Wirkung war bemerkenswert,
denn die bundesdeutsche Blockade der DDR zerbrach rasant und zahlreiche
Staaten insbesondere Afrikas stellten normale diplomatische Beziehungen
seit 1970 her.
Für die sowjetische Großmacht- und
Vormachtpolitik stellten die deutschen Alleingänge von Erfurt und
Kassel faktisch die "Sargnägel" für Ulbricht dar. Erich Honecker wurde
zu einem Geheimbesuch nach Moskau eingeladen, der am 28. Juli
stattfand. Breshnew bestätigte sowohl die Ablösung Ulbrichts als auch
die Nachfolge durch Honecker. Breshnew war unmissverständlich: "Auf
irgendwelche Schritte von Walter, die die Einheit des Politbüros, die
Einheit der SED betreffen, werden wir von uns aus reagieren. Ich sage
Dir ganz offen: es wird ihm auch nicht möglich sein, an uns vorbei zu
regieren, unüberlegte Schritte gegen Sie und andere Genossen des
Politbüros zu unternehmen. Wir haben doch Truppen bei Ihnen."(7)
Walter
Ulbricht war ahnungslos. Er reiste am 19. August 1970 nach Moskau, wo
die Führer der sozialistischen Länder zur Beratung weiterer Schritte
gegenüber der BRD eingestimmt werden sollten. In einem Gespräch
zwischen ihm und Breshnew am 21. August wiegte ihn der Gastgeber in
Sicherheit. Der SED-Delegation - sie bestand ausschließlich aus
Ulbricht-Opponenten (Stoph, Honecker, Hager, Mittag, Axen) - teilte
Breshnew mit: "Wir kamen auch überein, dass es notwendig ist, dass über
die personellen Bemerkungen des Genossen Ulbricht keine weitere
Erörterung im Politbüro des ZK der SED oder gar im ZK stattfindet ...
Wir gelangten im Gespräch zu der Meinung, alles zu löschen, was jetzt
vorgefallen war. Wichtig ist, dass alle an einem Strang
ziehen."(8) Walter Ulbricht kam nicht der Gedanke, bewusst
getäuscht zu werden. Er dankte dem Gastgeber und verabschiedete sich
mit freundlich gemeinten Sätzen, die indessen den imperialen Stolz des
"Großrussen" zutiefst verletzen mussten: "Wir wollen uns so in der
Kooperation als echter deutscher Staat entwickeln. Wir sind nicht
Bjelorussland, wir sind kein Sowjetstaat. Also echte Kooperation."(9)
Erich
Honecker zeigte sich nach dieser Moskau-Reise beunruhigt. Er hatte
inzwischen fast alle Mitglieder des Politbüros auf seine Seite gezogen
und startete mit ihnen den letzten und entscheidenden Angriff. Am 9.
Dezember 1970 begann die 14. Tagung des ZK der SED, in dessen
Mittelpunkt das NÖS stand. Es wurde eine Aufrechnung zwischen
erstrebten Zielen und tatsächlich erreichten Ergebnissen: Wunsch und
Wirklichkeit klafften weit auseinander. Walter Ulbricht stand auf
sprichwörtlich verlorenem Posten, denn ein Kompetenter - Gerhard
Schürer als Vorsitzender der Staatlichen Plankommission - sprach ein
vernichtendes Urteil über den ökonomischen Stand. Schürer wörtlich: "Es
ist völlig richtig, dass wir prognostisch und langfristig arbeiten und
forschen. Meines Erachtens beschäftigen sich aber gegenwärtig zu viele
qualifizierte Menschen mit der Ausarbeitung allgemeiner Dokumente für
das Jahr 1971 und zu wenige mit der Produktion und Technologie des
Jahres 1971, mit der stabilen Fahrweise der vorhandenen und der
Konstruktion neuer, hochmoderner Anlagen, mit der Leitung von Betrieben
und Betriebsteilen im Mehrschichtsystem, mit der prophylaktischen
Vermeidung von Havarien, das heißt mit der Erwirtschaftung des
Nationaleinkommens für das weitere ständige Wachstum der
Volkswirtschaft."(10) Insbesondere SED-Bezirkssekretäre - acht
von 15 ergriffen das Wort - schilderten die enorm wachsenden
Versorgungsschwierigkeiten mit Material für die Betriebe sowie die
vielfach kaum noch zu überbrückenden Mängel im Warenangebot für die
Bevölkerung. Walter Ulbricht war faktisch isoliert. Er formulierte über
Nacht ein von ihm nicht vorgesehenes Schlusswort, doch die Autorität
war schon eingeschränkt. "Neues Deutschland" erwähnte diesen Abschluss
zwar, jedoch blieben Inhalt oder gar Redetext ungedruckt.
21. Januar 1971: Der Brief der Fraktion
Am
21. Januar 1971 wandten sich die Mitglieder und Kandidaten des
Politbüros der SED - mit Ausnahme von Friedrich Ebert, Hermann Matern,
Alfred Neumann und Albert Norden - in einem Geheimschreiben an den
"Teuren Genossen Leonid Iljitsch Breshnew". Darin wurde - subtil auf
den Adressaten zugeschnitten - Walter Ulbricht unterstellt, er sähe
sich als Klassiker "auf einer Stufe mit Marx, Engels und Lenin". Die
Meinungsverschiedenheiten in der Parteiführung seien inzwischen auch im
Westen bekannt. Die "Bitte" lautete präzise: "Deshalb wäre es sehr
wichtig und für uns eine unschätzbare Hilfe, wenn Genosse Leonid
Iljitsch Breshnew in den nächsten Tagen mit Genossen Walter Ulbricht
ein Gespräch führt, in dessen Ergebnis Walter Ulbricht von sich aus das
Zentralkomitee ersucht, ihn auf Grund seines hohen Alters und seines
Gesundheitszustandes von der Funktion des Ersten Sekretärs des
Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zu
entbinden. Diese Frage sollte möglichst bald gelöst werden, das heißt,
unbedingt noch vor dem VIII. Parteitag der SED. Wir erwarten Ihre
Antwort und Hilfe. Mit kommunistischem Gruß."(11)
Der "teure
Genosse" entsprach der Bitte". Am 11. April fand - abermals in Moskau -
sein Gespräch mit Walter Ulbricht und Erich Honecker statt. Inhaltlich
gab die ADN-Meldung vom Folgetag keine Aufschlüsse. Es wurde nur "die
völlige Übereinstimmung der Ansichten der KPdSU und der SED"
mitgeteilt, verbunden mit dem obligaten politischen Stimmungshoch: "Die
Zusammenkunft ... verlief in einer Atmosphäre der brüderlichen
Freundschaft und Herzlichkeit."
Am 3. Mai 1971 - einem Montag -
begann die reguläre 16. Tagung des ZK der SED. Außergewöhnlich war das
rasche Ende der Sitzung. Die Mittagsnachrichten des DDR-Fernsehens und
der Rundfunkanstalten meldeten: "Das Zentralkomitee der SED beschloss
einstimmig, der Bitte des Genossen Walter Ulbricht zu entsprechen und
ihn aus Altersgründen von der Funktion des Ersten Sekretärs des
Zentralkomitees zu entbinden, um die Funktion in jüngere Hände zu
geben. Es beschloss, Genossen Walter Ulbricht für sein jahrzehntelanges
erfolgreiches Wirken in einem Brief den herzlichsten Dank
auszusprechen. Das Zentralkomitee beschloss einstimmig, Genossen Walter
Ulbricht in Ehrung seiner Verdienste zum Vorsitzenden der SED zu
wählen. Genosse Walter Ulbricht ist weiter als Vorsitzender des
Staatsrates tätig. Das Zentralkomitee wählte einstimmig Genossen Erich
Honecker zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees der SED."
Eine
Ära war damit unwiderruflich abgeschlossen. Entgegen den Festlegungen
begann an jenem selben 3. Mai 1971 die allseitige Löschung des
"Vorsitzenden der SED" und "Vorsitzenden des Staatsrates" aus der
Geschichte der DDR. Als Walter Ulbricht am 1. August 1973 verstarb,
hatten seine Genossen Nachfolger bereits nahezu ganze Arbeit in diesem
Sinne geleistet.
Anmerkungen
(1) Paul Oestreicher in einem Brief vom 10. März 1998 an den Verfasser - Privatarchiv des Verfassers (PdV).
(2) Zweite Bitterfelder Konferenz 1964, Berlin 1964, S. 118/119.
(3) Unser Staat. DDR-Zeittafel 1949 - 1983, Dietz Verlag, Berlin 1984, S. 88.
(4) Neues Deutschland, 16. Dezember 1965.
(5)
Norbert Podewin: Walter Ulbrichts späte Reformen und ihre Gegner, hefte
zur ddr-geschichte Nr. 59, "Helle Panke e. V.", Berlin 1999, S. 24.
(6)
Antwort auf Anfragen der Bevölkerung ur Gegenwart und Zukunft unseres
Volkes. Aus der Rede auf dem Nationalkongress am 16. und 17. Juni 1962;
in: Walter Ulbricht: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd.
X, Dietz Verlag, Berlin 1966, S. 488 ff.
(7) Protokoll einer Unterredung Leonid Breshnew/Erich Honecker am 28. Juli 1970, SAPMO, BA, SED, ZK, IV/2A/3196.
(8)
Vermerk über die gemeinsame Besprechung der Delegation des ZK der KPdSU
mit der Delegation des ZK der SED am 21. August 1970, Moskau,
angefertigt durch die Genossen Stoph, Honecker und Mittag.
(9) Ebenda.
(10) Neues Deutschland, 11. Dezember 1970.
(11) SAPMO, BA, SED, ZK/IV 2/2A/3196.