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28. Juli 2008 Geschichtskorrespondenz

Walter Ulbrichts späte Reformen und ihre Gegner

Dr. Norbert Podewin

Der 13. August 1961: die "Zweitgeburt" der DDR

Walter Ulbricht hat intern und im kleinen Kreis von Vertrauten den Mauerbau in Berlin als "Zweitgeburt der DDR" bezeichnet. Nun konnte - erstmals weitgehend abgeschirmt vom NATO-Europa - der Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung planmäßig umgesetzt werden. Die oftmals tiefen Einschnitte im deutsch-deutschen Familienleben hat er durchaus gesehen. Das persönliche Negativ-Image gestand er in einem Gespräch mit dem anglikanischen Priester Paul Oestreicher ein, den er Anfang 1962 zu einem Gespräch über humanitäre Fragen empfing. "Ulbricht überraschte uns mit seiner leutseligen Art, äußerst intelligent und schlagfertig, überaus freundlich zu Beginn. Er wusste, wie man Leute beeindrucken kann - mit großer Offenheit ... Er stehe in Frontlinie der Verteidigung des Sozialismus, dazu gehöre die Tragik der Mauer, nötig, damit die DDR nicht menschlich ausblutet ... 'Die Menschen, mein Volk, sind noch bürgerlich verseucht, verstehen noch nicht, was der Sozialismus bedeutet. Sie können mich nicht lieben, diesen Preis muss ich bezahlen.' Angesprochen auf die damalige Liberalisierung Chruschtschows, ob das nicht auch in der DDR zur Liberalisierung führen müsse, erwiderte er: 'Der dahinten kann sich allerhand leisten, aber ein Soldat im Schützengraben zündet sich keine Zigarette an.' Frage an ihn: Aber muss man an der Mauer Menschen totschießen? Antwort dem Sinn nach: 'Das ist der bittere Preis, den ich bezahlen muss. Würde nie geschossen, hätten wir die Mauer gar nicht bauen müssen. Ich weiß nur zu wohl, welche Propagandawaffe ich damit dem Klassenfeind liefere. Ich habe keine Wahl. Eines Tages - nach meinem Tod - wird mir die Geschichte Recht geben.'"(1)

Unmittelbar nach der Zäsur des 13. August 1961 setzte Walter Ulbricht eine Vielzahl von deutschlandpolitischen Aktivitäten in Gang, die auf die vertragliche Normalisierung zur BRD zielten. Ein erstes Signal war das Angebot an den Senat von Berlin (West), das zum Passierscheinabkommen vom 17. Dezember 1963 führte. Es ermöglichte den Westberlinern zu Weihnachten/Silvester den Verwandtenbesuch in der DDR-Hauptstadt. Später folgten Erweiterungen (Ostern/Pfingsten); ab 10. Oktober 1966 existierte auch eine DDR-"Passierscheinstelle für dringende Familienangelegenheiten" im Westteil Berlins. Am 6. Januar 1964 sandte der Staatsratsvorsitzende dem neuen Bundeskanzler Ludwig Erhard den Entwurf eines Vertrages über den beiderseitigen Verzicht der deutschen Staaten auf Kernwaffen - der Brief wurde ungeöffnet zurück geschickt.

Am 24. April 1964 gab es - im Verlauf der 2. Bitterfelder Konferenz - eine neue Ulbricht-Offerte an Bonn: Zeitungsaustausch. Ulbricht: "Obwohl die westdeutsche Presse ständig empörende Beweise dafür liefert, dass sie die westdeutsche Bevölkerung nicht informiert, sondern desorientiert und in die Irre führt, wären wir bereit, einige westdeutsche Zeitungen wie etwa 'Die Zeit' oder die 'Süddeutsche Zeitung' bei uns zum Verkauf auszulegen, wenn die Garantie dafür gegeben wäre, dass in Westdeutschland das 'Neue Deutschland' in gleichem Maße öffentlich verkauft wird."(2) Auch diese Offerte scheiterte an formaljuristischen Vorbehalten der BRD-Instanzen.

Ein dritter Vorschlag - Redneraustausch zwischen den Repräsentanten von SED und SPD - kam nicht zustande. Die BRD-Medien attackierten von Anbeginn den in einem "Offenen Brief" vom Februar 1965 an die Delegierten des Dortmunder SPD-Parteitages unterbreiteten Vorschlag. Anfangsverhandlungen beider Seiten schienen erfolgreich - die SED hatte bereits Friedrich Ebert sowie Albert Norden als Redner nominiert. Die Veranstaltungsorte und Termine waren bereits fixiert: 14. Juli - Karl-Marx-Stadt; 21. Juli - Hannover. Intern regte sich im Politbüro eine Gruppe um Erich Honecker, initiiert von der neuen Führung der KPdSU: Wie konnte gesichert werden, dass es bei deutsch-deutschen Themen blieb und nicht Probleme der "Bruderländer" seitens der SPD aufgeworfen würden? Die BRD kam dieser SED-Fraktion ungewollt entgegen. Sie verabschiedete am 23. Juni 1965 auf SPD-Antrag das "Gesetz über die befristete Freistellung von der deutschen Gerichtsbarkeit", das generell alle DDR-Repräsentanten zu potentiellen Straftätern erklärte, die man jedoch in bestimmten Ausnahmefällen - so etwa beim Redneraustausch - für einen befristeten Zeitraum von der Strafverfolgung freistellen konnte. Albert Norden nannte dieses Konstrukt prägnant "Handschellengesetz". Unter dieser unannehmbaren Voraussetzung zog die SED am 29. Juni 1965 ihren Vorschlag zurück. Die Medien der BRD fälschten den Vorgang um, die SED habe Angst vor dem öffentlichen Auftreten sozialdemokratischer Politiker in der BRD. "BILD" brachte es auf den Punkt: "Ulbricht kneift!"

Der Absturz Chruschtschows und seine Folgen für die Deutschlandpolitik Walter Ulbrichts

Am 14. Oktober 1964 vollzog sich in Moskau ein Machtwechsel mit weltweiten Folgen: Nikita S. Chruschtschow wurde als Erster Sekretär des ZK der KPdSU durch Leonid I. Breshnew abgelöst. Der Gestürzte verlor auch seinen Sitz im Politbüro und 1966 auch noch die Mitgliedschaft im ZK. Der Nachfolger war im Sinne einer kritischen Analyse W. I. Lenins ein "Großrusse". Er entwickelte die nach ihm benannte Doktrin, wonach die Interessen der kommunistischen Gemeinschaft Vorrang vor den spezifischen Belangen eines einzelnen Staates der sozialistischen Gemeinschaft hätten. Sichtbarer Ausdruck dieser "Breshnew-Doktrin" war der Einmarsch von Truppen des Warschauer Vertrages am 21. August 1968 in die CSSR zur Unterbindung des "Prager Frühlings". Die DDR-Volksarmee war auf ausdrückliche Forderung Walter Ulbrichts an der Intervention nicht beteiligt.

In der Ära Chruschtschow (1953 bis 1964) genoss die DDR außenpolitisch den größten Freiraum in ihrem vierzigjährigen Bestehen. Das beruhte auch auf der persönlichen Wertschätzung Chruschtschows gegenüber Walter Ulbricht - beide hatten wesentliche Fundamente dieser zwischenmenschlichen Beziehungen insbesondere in den Schützengräben vor Stalingrad gelegt. Breshnew hatte schon vor seinem Machtantritt die Deutschland-Aktivitäten Walter Ulbrichts misstrauisch beargwöhnt. Seit Oktober 1964 unterstützte er die Installation einer Fraktion gegen Ulbricht in der SED-Führung. Erich Honecker war insbesondere über innenpolitisch neue Weichenstellungen Walter Ulbrichts nach dem 13. August 1961 empört. Der hatte eine neue Jugendpolitik in Gang gesetzt, die erstmalig auch DDR-Rock- und Singegruppen Massenzufluss sicherten. Erstmals tauchten in den Kinos DEFA-Filme mit sozialkritischen Aspekten beim Aufbau des Sozialismus auf und zwischenmenschliche Beziehungen wurden thematisiert. Bücher wie Erwin Strittmatters "Ole Bienkopp" (1963) oder "Spur der Steine" von Erik Neutsch (1964) wurden zu literarischen "Dauerbrennern".

Ein "Deutschlandtreffen" hatte vom 16. bis 18. Mai 1964 junge Menschen aus beiden deutschen Staaten und Berlin/West zusammengeführt und zu zahllosen politischen Gesprächen und teils fortdauernden Kontakten geführt. Der aus diesem Anlass ins Leben tretende Rundfunksender "DT 64" wurde von der DDR-Jugend sofort mit Begeisterung angenommen und erhielt deshalb - über die Deutschlandtreffentage hinweg - dauerhaften Bestand.

Gegen diese als "Aufweichungserscheinungen" bewerteten Trends nahm die Gruppe um Erich Honecker erstmals auf dem 11. Plenum vom 15. bis 18. Dezember 1965 offen den Kampf gegen Walter Ulbricht auf. Die Tagesordnung sah - wie alljährlich zu diesem Zeitpunkt üblich - die Bestätigung der Zielvorstellungen des neuen Planjahres vor. Kulturpolitische Grundfragen waren nicht vorgesehen. Interessant ist auch der Fakt, dass in einer in Honeckers Amtszeit veröffentlichten DDR-Zeittafel dieser "Einschub" wieder ausgeblendet wurde. Dort heißt es 1984 lediglich mit Terminangabe zum Inhalt: "Die 11. Tagung des ZK der SED behandelt u. a. Probleme des Perspektivplanes bis 1970 und den Entwurf des Volkswirtschaftsplanes 1966."(3)

Berichterstatter war auf diesem Plenum Erich Honecker. Er täuschte Ulbricht, indem er einen ausschließlich auf volkswirtschaftliche Schwerpunkte orientierten Entwurf in Umlauf gab und bestätigen ließ. Anschließend fügte er vorher nicht vorhandene Teile zur Kulturpolitik ein, die dann auch Ulbricht überraschten und schockierten. Honecker machte in den Zusätzen "schädliche Tendenzen" sowie "Skeptizismus und Unmoral" im Kulturbereich aus und setzte dagegen: die DDR sei "ein sauberer Staat", in dem "unverrückbare Maßstäbe der Ethik und Moral" gälten. Namentlich denunziert wurden Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler, unter anderen Robert Havemann, Stefan Heym und Wolf Biermann. Dann schlug der Berichterstatter - ohne Namensnennung - auf die von Walter Ulbricht im Rahmen des "Neuen Ökonomischen Systems" protegierten Wirtschaftsreformer ein: "Bei einigen Wissenschaftlern, Technikern und auch staatlichen Leitern ist die Neigung noch nicht überwunden, sich in allen Fragen der neuen Technik einseitig am 'Westniveau' zu orientieren, ohne den Versuch gemacht zu haben, sich über den Stand in der Sowjetunion zu informieren ... Die Leiter und alle verantwortlichen Mitarbeiter in den Staats- und Wirtschaftsorganen müssen in ihrer praktischen Tätigkeit stets davon ausgehen, dass die enge Zusammenarbeit mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken für eine gesicherte Perspektive entscheidend ist."(4) In der anschließenden Diskussion gewann die Fraktion personelle Konturen. Leipzigs Parteichef Paul Fröhlich, der Kulturpolitiker Alfred Kurella, die Verantwortliche der Parteihochschule der SED Hanna Wolf und andere fielen in Honeckers Schelte ein.

Walter Ulbricht stand vor einer Entscheidungssituation besonderer Art. Stellte er sich frontal gegen die Vorwürfe, so musste er seine Kritiker als Fraktion kennzeichnen und ihre Abstrafung durch das Plenum verlangen. Doch galt auch für ihn die Wahrung des Äußeren - die "Einheit der Partei und ihrer Führung" und deren daraus abgeleitete "führende Rolle" - als öffentlich unantastbar. Sein Kompromiss: er stimmte in seinem Diskussionsbeitrag - das Plenum dauerte einen Tag länger als ursprünglich vorgesehen - mit den Kritikern darin überein, dass es "Schwankende" gäbe und "Unklarheiten" beständen; doch man befinde sich auf gesichertem Boden und könne deshalb in diesen Fällen mit Langmut und Nachsicht überzeugen. Doch hatte die Fraktion - wie die nahe Zukunft zeigen sollte - einen Sieg eingefahren: abgedrehte Filme blieben unaufgeführt, Manuskripte wurden nicht mehr zu Büchern, Fernsehspiele wurden abgesetzt. Der Vorsitzende der Jugendkommission beim Politbüro - Kurt Turba - geriet zum Bauernopfer; er wurde seines Postens enthoben und in die Nachrichtenagentur ADN versetzt.

Reformkur für den Apparat

Es gab noch einen weiteren schwergewichtigen Aspekt für den Vorstoß der Honecker-Fraktion: die Funktionärskaste fühlte sich seit der  neuen Phase der Innenpolitik nach dem 13. August in ihrer Unersetzlichkeit bedroht. Bereits Ende 1961 hatte Walter Ulbricht in einer sehr deutlichen Sprache die parteiamtliche "Überwucherung" angeprangert. Vor der Berliner Parteiorganisation nannte er Zahlen: "Man hat mir gesagt, der Stadtbezirk Mitte habe 1465 hauptamtliche Kräfte. Das heißt: auf 62 Einwohner käme eine hauptamtliche Kraft. Stellt Euch das einmal vor! Wenn diese alle aktiv an der Massenarbeit teilnähmen, wäre es gar nicht auszudenken, wie schnell wir dann vorwärts kämen! Manche Funktionäre würden bei dieser Massenarbeit wieder eine engere Verbindung mit dem Leben bekommen, und das würde ihnen gut tun."(5)

Erstmals öffentlich gemacht wurde auch das Bildungsniveau hauptamtlicher Kader. In 106 SED-Kreisleitungen gäbe es keinen einzigen Mitarbeiter mit einer Hochschulausbildung. Städtenamen wurden exemplarisch aufgeführt: von den 18 Kreisen des Bezirks Erfurt und den 31 Kreisen Karl-Marx-Stadts hätten 16 Kreisleitungen in ihren Apparaten keinen Genossen mit fachlicher Hochschulbildung. Ulbricht wörtlich: "In den Kreisleitungen Erfurt-Nord, Apolda und Wolgast gibt es überhaupt keinen Genossen mit einer Hoch- oder Fachschulausbildung" - ein unhaltbarer Zustand.

Radikales Umdenken nach der DDR-"Zweitgeburt" sagte der Partei- und Staatschef auch in einem Bereich an, an dem zuvor jede kritische Bemerkung für den Betreffenden lebensbedrohlich werden konnte: dem Strafrecht. Walter Ulbricht forderte Umdenken. Vor den 4000 Teilnehmern des Nationalkongresses der Nationalen Front Deutschlands - er tagte am 16./17. Juni 1962 in Berlin - betonte er: Nach der zuverlässigen Grenzsicherung festige sich die innere Lage des Staates - das ökonomische wie das politisch-moralische Fundament seien stabil und gewännen täglich mehr an Festigkeit. Damit seien aber auch die Möglichkeiten, "Menschen, die unsere Gesetze verletzten, zu erziehen, anstatt zu strafen, heute bei weitem größer als - sagen wir einmal - vor zehn Jahren. Offensichtlich haben das einige Rechtswissenschaftler nicht verstanden ... Damit können wir uns nicht einverstanden erklären." "Feindlichen Anschlägen" und anderen schweren Verbrechen werde man auch künftig mit aller Härte begegnen. Jedoch sei nicht jede dumme Bemerkung, nicht jedes dumme Gerede, wenn jemand - wie man landläufig sage "der Kragen platzt" - eine Staatsverleumdung. Viel stärker als in der Vergangenheit sei die ehrenamtliche Rechtsprechung - beispielsweise durch die Tätigkeit von Konfliktkommissionen - gefordert. Ganz Staatsmann und Landesvater formulierte er explizit: "Wir sind keine Fetischisten der Strafe. Wir vertrauen auf die wachsende Kraft der sozialistischen Gesellschaft, durch die die Reste des egoistischen, menschenfeindlichen Denkens und Handelns aus der kapitalistischen Zeit überwunden werden und der Kriminalität immer mehr der Boden entzogen wird. Freiheit und Gerechtigkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit, einer für alle und alle für einen - das sind die unveräußerlichen Grundlagen der entfalteten sozialistischen Gesellschaft, der wir gemeinsam zustreben."(6)

Fallstrick Deutschlandpolitik

Mit großem Misstrauen hatte der neue "Erste" im Kreml - Leonid Breshnew - den wirtschaftlichen Reformkurs in Form des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NÖSPL) in der DDR verfolgt. Die Reaktion war ebenso einfach wie brutal: der lebensnotwendige Rohstoffnerv der DDR-Wirtschaft in Gestalt sowjetischer Erdöllieferungen wurde faktisch zerstört, indem man die Liefermenge auf ein Minimum reduzierte. Wirtschaftsverhandlungen DDR/UdSSR im Herbst 1965 erbrachten kein Einlenken. Im Ergebnis dieses Scheiterns zog der DDR-Verhandlungsleiter Erich Apel eine persönlich dramatische Konsequenz: Er beging am 3. Dezember 1965 in seinem Dienstzimmer im Haus der Ministerien Selbstmord. Am 15. Dezember 1965 schließlich begann die bereits geschilderte 11. ZK-Tagung mit dem Angriff der sich entwickelnden Honecker-Fraktion auf Walter Ulbrichts Generalreformen. Es ist gewiss keine Unterstellung, dass er dazu die - noch stillschweigende - Unterstützung Leonid Breshnews besaß, der vom 27. bis 30. November 1965 die DDR besucht hatte.

Doch noch hielt Walter Ulbricht an seinem besonderen deutschen Weg zum Sozialismus fest. Er distanzierte sich faktisch nochmals öffentlich vom sowjetischen Modell. In einer Aufsehen erregenden Rede zur Würdigung des Hauptwerkes von Karl Marx - "Das Kapital" - erklärte er definitiv, "dass der Sozialismus nicht eine kurzfristige Übergangsphase in der Gesellschaft ist, sondern eine relativ selbständige sozialökonomische Formation in der historischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus im Weltmaßstab". Die internationalen Zuhörer werteten das durchaus richtig als Absage an das sowjetische Vorbild: Nach der dortigen Lehrmeinung hatte der Aufbau des Sozialismus in der UdSSR 1936 begonnen - 1961 hatte Chruschtschow den Eintritt in die Phase des Kommunismus propagiert.

In der Deutschlandpolitik zeichneten sich Ende der sechziger Jahre bedeutsame Veränderungen ab. Nach dem Ende der Ära Adenauer übernahm der "Vater des Wirtschaftswunders", Ludwig Erhard, am 16. Oktober 1963 das Kanzleramt. Seine Amtszeit war kurz und glücklos: Er trat bereits am 30. November 1966 zurück. Ihm folgte das Kabinett der Großen Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) und Vizekanzler Willy Brandt (SPD). Es war ein Bündnis auf Zeit: Bei der Bundestagswahl vom 28. September 1969 errangen SPD (224) und FDP (30) insgesamt mit 254 Mandaten die parlamentarische Mehrheit. Kanzler wurde Willy Brandt, Stellvertreter der FDP-Vorsitzende Walter Scheel.

Im Vorfeld hatte es 1969 bereits den vorzeitigen Rücktritt des von der DDR dokumentarisch als KZ-Baumeister überführten Bundespräsidenten Heinrich Lübke (CDU) gegeben; sein Nachfolger wurde am 5. März 1969 Gustav Heinemann (SPD). Nochmals wurde Walter Ulbricht im Alleingang aktiv: Er setzte am 17. Dezember 1969 einen Volkskammerbeschluss durch, "... die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um mit der Bundesrepublik Deutschland Beziehungen auf der Grundlage der friedlichen Koexistenz zu unterhalten, die durch völkerrechtlich gültige Vereinbarungen geregelt und gesichert sind". So legitimiert richtete der DDR-Staatsratsvorsitzende am Folgetag ein Schreiben an den BRD-Bundespräsidenten, dem ein Vertragsentwurf über die Aufnahme gleichberechtigter Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten beigefügt war. Erstmals gab es eine korrekte Antwort aus Bonn: Der Bundespräsident teilte seinem deutschen Pendant mit, das Schreiben sei zuständigkeitshalber an die Bundesregierung weitergeleitet worden. Im Ergebnis kam es dann zu den international als Durchbruch in den deutsch-deutschen Beziehungen gewerteten Treffen von Erfurt (19. März) und Kassel (21. Mai 1970) zwischen DDR-Ministerpräsident Willi Stoph und Bundeskanzler Willy Brandt. Es gab keine verbindlichen Vereinbarungen; Brandt legte in Kassel einen 20-Punkte-Plan vor, der die schrittweise vertragliche Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten vorsah. Man vereinbarte abschließend eine "Denkpause" ohne Terminverbindlichkeit. Die internationale Wirkung war bemerkenswert, denn die bundesdeutsche Blockade der DDR zerbrach rasant und zahlreiche Staaten insbesondere Afrikas stellten normale diplomatische Beziehungen seit 1970 her.

Für die sowjetische Großmacht- und Vormachtpolitik stellten die deutschen Alleingänge von Erfurt und Kassel faktisch die "Sargnägel" für Ulbricht dar. Erich Honecker wurde zu einem Geheimbesuch nach Moskau eingeladen, der am 28. Juli stattfand. Breshnew bestätigte sowohl die Ablösung Ulbrichts als auch die Nachfolge durch Honecker. Breshnew war unmissverständlich: "Auf irgendwelche Schritte von Walter, die die Einheit des Politbüros, die Einheit der SED betreffen, werden wir von uns aus reagieren. Ich sage Dir ganz offen: es wird ihm auch nicht möglich sein, an uns vorbei zu regieren, unüberlegte Schritte gegen Sie und andere Genossen des Politbüros zu unternehmen. Wir haben doch Truppen bei Ihnen."(7)

Walter Ulbricht war ahnungslos. Er reiste am 19. August 1970 nach Moskau, wo die Führer der sozialistischen Länder zur Beratung weiterer Schritte gegenüber der BRD eingestimmt werden sollten. In einem Gespräch zwischen ihm und Breshnew am 21. August wiegte ihn der Gastgeber in Sicherheit. Der SED-Delegation - sie bestand ausschließlich aus Ulbricht-Opponenten (Stoph, Honecker, Hager, Mittag, Axen) - teilte Breshnew mit: "Wir kamen auch überein, dass es notwendig ist, dass über die personellen Bemerkungen des Genossen Ulbricht keine weitere Erörterung im Politbüro des ZK der SED oder gar im ZK stattfindet ... Wir gelangten im Gespräch zu der Meinung, alles zu löschen, was jetzt vorgefallen war. Wichtig ist, dass alle an einem Strang ziehen."(8)  Walter Ulbricht kam nicht der Gedanke, bewusst getäuscht zu werden. Er dankte dem Gastgeber und verabschiedete sich mit freundlich gemeinten Sätzen, die indessen den imperialen Stolz des "Großrussen" zutiefst verletzen mussten: "Wir wollen uns so in der Kooperation als echter deutscher Staat entwickeln. Wir sind nicht Bjelorussland, wir sind kein Sowjetstaat. Also echte Kooperation."(9)

Erich Honecker zeigte sich nach dieser Moskau-Reise beunruhigt. Er hatte inzwischen fast alle Mitglieder des Politbüros auf seine Seite gezogen und startete mit ihnen den letzten und entscheidenden Angriff. Am 9. Dezember 1970 begann die 14. Tagung des ZK der SED, in dessen Mittelpunkt das NÖS stand. Es wurde eine Aufrechnung zwischen erstrebten Zielen und tatsächlich erreichten Ergebnissen: Wunsch und Wirklichkeit klafften weit auseinander. Walter Ulbricht stand auf sprichwörtlich verlorenem Posten, denn ein Kompetenter - Gerhard Schürer als Vorsitzender der Staatlichen Plankommission - sprach ein vernichtendes Urteil über den ökonomischen Stand. Schürer wörtlich: "Es ist völlig richtig, dass wir prognostisch und langfristig arbeiten und forschen. Meines Erachtens beschäftigen sich aber gegenwärtig zu viele qualifizierte Menschen mit der Ausarbeitung allgemeiner Dokumente für das Jahr 1971 und zu wenige mit der Produktion und Technologie des Jahres 1971, mit der stabilen Fahrweise der vorhandenen und der Konstruktion neuer, hochmoderner Anlagen, mit der Leitung von Betrieben und Betriebsteilen im Mehrschichtsystem, mit der prophylaktischen Vermeidung von Havarien, das heißt mit der Erwirtschaftung des Nationaleinkommens für das weitere ständige Wachstum der Volkswirtschaft."(10) Insbesondere SED-Bezirkssekretäre - acht  von 15 ergriffen das Wort - schilderten die enorm wachsenden Versorgungsschwierigkeiten mit Material für die Betriebe sowie die vielfach kaum noch zu überbrückenden Mängel im Warenangebot für die Bevölkerung. Walter Ulbricht war faktisch isoliert. Er formulierte über Nacht ein von ihm nicht vorgesehenes Schlusswort, doch die Autorität war schon eingeschränkt. "Neues Deutschland" erwähnte diesen Abschluss zwar, jedoch blieben Inhalt oder gar Redetext ungedruckt.

21. Januar 1971: Der Brief der Fraktion

Am 21. Januar 1971 wandten sich die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros der SED - mit Ausnahme von Friedrich Ebert, Hermann Matern, Alfred Neumann und Albert Norden - in einem Geheimschreiben an den "Teuren Genossen Leonid Iljitsch Breshnew". Darin wurde - subtil auf den Adressaten zugeschnitten - Walter Ulbricht unterstellt, er sähe sich als Klassiker "auf einer Stufe mit Marx, Engels und Lenin". Die Meinungsverschiedenheiten in der Parteiführung seien inzwischen auch im Westen bekannt. Die "Bitte" lautete präzise: "Deshalb wäre es sehr wichtig und für uns eine unschätzbare Hilfe, wenn Genosse Leonid Iljitsch Breshnew in den nächsten Tagen mit Genossen Walter Ulbricht ein Gespräch führt, in dessen Ergebnis Walter Ulbricht von sich aus das Zentralkomitee ersucht, ihn auf Grund seines hohen Alters und seines Gesundheitszustandes von der Funktion des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zu entbinden. Diese Frage sollte möglichst bald gelöst werden, das heißt, unbedingt noch vor dem VIII. Parteitag der SED. Wir erwarten Ihre Antwort und Hilfe. Mit kommunistischem Gruß."(11)

Der "teure Genosse" entsprach der Bitte". Am 11. April fand - abermals in Moskau - sein Gespräch mit Walter Ulbricht und Erich Honecker statt. Inhaltlich gab die ADN-Meldung vom Folgetag keine Aufschlüsse. Es wurde nur "die völlige Übereinstimmung der Ansichten der KPdSU und der SED" mitgeteilt, verbunden mit dem obligaten politischen Stimmungshoch: "Die Zusammenkunft ... verlief in einer Atmosphäre der brüderlichen Freundschaft und Herzlichkeit."

Am 3. Mai 1971 - einem Montag - begann die reguläre 16. Tagung des ZK der SED. Außergewöhnlich war das rasche Ende der Sitzung. Die Mittagsnachrichten des DDR-Fernsehens und der Rundfunkanstalten meldeten: "Das Zentralkomitee der SED beschloss einstimmig, der Bitte des Genossen Walter Ulbricht zu entsprechen und ihn aus Altersgründen von der Funktion des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees zu entbinden, um die Funktion in jüngere Hände zu geben. Es beschloss, Genossen Walter Ulbricht für sein jahrzehntelanges erfolgreiches Wirken in einem Brief den herzlichsten Dank auszusprechen. Das Zentralkomitee beschloss einstimmig, Genossen Walter Ulbricht in Ehrung seiner Verdienste zum Vorsitzenden der SED zu wählen. Genosse Walter Ulbricht ist weiter als Vorsitzender des Staatsrates tätig. Das Zentralkomitee wählte einstimmig Genossen Erich Honecker zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees der SED."

Eine Ära war damit unwiderruflich abgeschlossen. Entgegen den Festlegungen begann an jenem selben 3. Mai 1971 die allseitige Löschung des "Vorsitzenden der SED" und "Vorsitzenden des Staatsrates" aus der Geschichte der DDR. Als Walter Ulbricht am 1. August 1973 verstarb, hatten seine Genossen Nachfolger bereits nahezu ganze Arbeit in diesem Sinne geleistet.

Anmerkungen

(1) Paul Oestreicher in einem Brief vom 10. März 1998 an den Verfasser - Privatarchiv des Verfassers (PdV).
(2) Zweite Bitterfelder Konferenz 1964, Berlin 1964, S. 118/119.
(3) Unser Staat. DDR-Zeittafel 1949 - 1983, Dietz Verlag, Berlin 1984, S. 88.
(4) Neues Deutschland, 16. Dezember 1965.
(5) Norbert Podewin: Walter Ulbrichts späte Reformen und ihre Gegner, hefte zur ddr-geschichte Nr. 59, "Helle Panke e. V.", Berlin 1999, S. 24.
(6) Antwort auf Anfragen der Bevölkerung ur Gegenwart und Zukunft unseres Volkes. Aus der Rede auf dem Nationalkongress am 16. und 17. Juni 1962; in: Walter Ulbricht: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. X, Dietz Verlag, Berlin 1966, S. 488 ff.
(7) Protokoll einer Unterredung Leonid Breshnew/Erich Honecker am 28. Juli 1970, SAPMO, BA, SED, ZK, IV/2A/3196.
(8) Vermerk über die gemeinsame Besprechung der Delegation des ZK der KPdSU mit der Delegation des ZK der SED am 21. August 1970, Moskau, angefertigt durch die Genossen Stoph, Honecker und Mittag.
(9) Ebenda.
(10) Neues Deutschland, 11. Dezember 1970.
(11) SAPMO, BA, SED, ZK/IV 2/2A/3196.